Schulfach Zuhören

Online treffe ich fünf Freunde in Zoom. Wir berichten uns, wie unsere Woche war. Außerdem haben wir das Diskussionsthema “Hoffnung entwickeln — Visionen teilen”. Später wollen wir abwechselnd über Hoffnung und Visionen sprechen. Das Gespräch lässt mich mit einer Erkenntnis zurück. Aber dazu komme ich noch …

In Strasbourg gab es kürzlich ein Erdbeben der Stärke 3,5 auf der Richterskala. Umweltschützer vermuten seit langem die Ursache im Geothermie-Kraftwerk in unmittelbarer Nähe der Stadt. Es ist nicht das erste Erdbeben, das in dieser Region darauf zurückgeführt wird. Die Dementi folgten auf dem Fuß. Gegner und Befürworter der Geothermie schenkten sich in der Diskussion nichts. Der Betrieb des Kraftwerks wurde dennoch erst einmal eingestellt.

Eine halbwegs prominente junge Frau äußert sich öffentlich auf Instagram und Twitter. Sie schreibt seit Monaten gegen die Corona-Maßnahmen an, trägt keine Maske und ist stolz darauf und äußert sich zustimmend zu Donald Trump.

Einmal hatte sie sogar einen Tweet von mir geteilt, in dem ich mich besorgt über das französische Sicherheitsgesetz geäußert hatte, und geschrieben: “Sogar die Deutschen sorgen sich um Frankreich.” Leider hatte sie auch noch kommentiert, dass “Macron ein Stück Dreck” sei. Ich hatte ihr da schon geantwortet, dass man anderer Meinung sein kann, aber Menschen nicht als Dreck bezeichnet. Daraufhin nannte sie ihn “eine Ausgeburt der Hölle”.

All das hatte ich ausgehalten, weil sie einfach großartige Bilder macht. Ich bin (immer noch) fasziniert von ihrer Arbeit als Fotografin. Sie macht wunderbare Aufnahmen, im wesentlichen Selbstportraits, oft nackt, in schwarzweiß und teilweise an öffentlichen Plätzen mitten in der Stadt. Der Kontrast zwischen ihren harten Äußerungen in den sozialen Netzen und der Ästhetik ihrer Fotokunst fiel mir schon seit Wochen auf. Auch deshalb, weil ihr Ton über die letzten Wochen immer krasser geworden war. Es klangen zuletzt Wut und Verzweiflung heraus.

Jemand mochte ihre Kommentare zur Corona-Politik der französischen Regierung nicht. Er sendete ihr eine Nachricht, in der er mitteilte, dass er vier Menschen kennt, die an Corona gestorben sind. Er hatte auch dazu geschrieben, wer das war: Die Großmutter einer Freundin, ein eigener Freund, die ehemalige Frau eines Nachbarn, der Vater einer Schülerin.

Jemand anderes aus ihrer Bubble kommentierte das mit: “Es liegt an Personen wie uns, dass der Hund der Tante des besten Freunds der Nichte unseres Schwiegervaters an Covid gestorben ist.”

Die Fotografin stimmte zu und teilte diese Meinung. Sie meinte sogar, nicht der Hund, sondern ein Einhorn wäre gestorben. Andere Corona-Tote kenne sie nicht und deshalb würde es diese in ihrer Welt auch nicht geben. Corona-Tote kämen aus dem Reich der Legenden.

Wie ignorant kann man sein? Diese vier Menschen sind tot und die Leute machen sich lustig? Mitgefühl? Fehlanzeige. Perspektivwechsel? Was ist das?

Als ich sie daraufhin anschreibe, warum sie sowas macht und kein Mitgefühl zeigt, reagiert sie genervt. Nach meiner Bitte nach mehr Offenheit und Diskussionskultur hat sie mich sofort geblockt. So läuft das heute. Ich hatte das schon erwartet. Sie bleibt lieber in ihrer Bubble.

Zuhören? Auch Fehlanzeige. Diskutieren nicht gewünscht.

Nach einem Monat Lockdown dürfen seit dem 28. November, einem Samstag, die Ladengeschäfte in Frankreich wieder öffnen. Ich wohne in der Innenstadt und bin über die Verstopfung der Straßen und von den Warteschlangen vor den Geschäften erstaunt. Die Menschen strömen in die Stadt. Auch die Sonntage vor Weihnachten sind nun alle verkaufsoffen und man hat sogar Verständnis dafür, dass alle Ladeninhaber öffnen und versuchen, entgangenen Umsatz so gut es geht wieder reinzuholen.

Auf Twitter kursiert ein Video der Schlange vor dem Primark in Paris. Der Film zeigt nur die Warteschlange vor dem Laden und geht fast drei Minuten. Das ist bei normaler Gehgeschwindigkeit des Kameramanns eine Schlage der Länge von circa zweihundertfünfzig Metern. Nach vier Wochen der Entbehrungen ist in der Pandemie offensichtlich das Wichtigste, Jeans für siebzehn Euro und T-Shirts für sieben Euro zu kaufen. Oder darf es noch ein Kleid für vierzehn Euro sein?

Inzwischen führt das “globale Sicherheitsgesetz” zu Unruhen in ganz Frankreich. Mit diesem Gesetz hätten es künftig sogar Journalisten schwer, Polizeieinsätze zu filmen. Wegen bereits erlebter Polizeigewalt regt sich starker Widerstand. Tausende demonstrieren in den großen Städten. Unter den Demonstranten in Strasbourg fällt eine Gruppe Schwarzer Block auf. Sie versucht, die friedliche Demonstration aufzuheizen und provoziert Rangeleien mit der Polizei. Die Stimmung spannt sich zunehmend an. Es drohen gewalttätige Zusammenstöße. Dann wendet sich das Blatt und die Mehrzahl der friedlichen Demonstranten verjagt die Provokateure in den eigenen Reihen. Waren das wirklich Linke, wie immer? Nein, das waren Nazis, wird ebenso behauptet. Sogar die Theorie, dass es sich um in Zivil getarnte Polizisten handelte, die gezielt ein Einschreiten ihrer Kollegen provozieren wollten, kursiert. Nach dem Motto: Seht her, die Demonstranten sind gewalttätig und die Polizeimaßnahmen sind gerechtfertigt.

Ein Freund schreibt mir eine Mail. Er ist Altenpfleger. Nachdem es Monate lang gut gegangen war, gibt es nun auch Corona-Fälle in seinem Altenheim. Getestet werden nur die “Insassen” (so werden die Alten dort mittlerweile genannt) mit Symptomen. Der hinzugezogene Arzt hat “keinen Auftrag, andere Personen zu testen”. Nach acht Tagen Nachtschicht muss mein Freund in seiner freien Woche in Quarantäne.

Er soll sich zwei Tage vor Beginn seiner nächsten Schicht wieder testen lassen. Bei einem negativem Test kann rechtzeitig vor der nächsten Dienstwoche die Quarantäne aufgehoben werden. Arbeit — Quarantäne — Arbeit — Quarantäne … welch schöner Rhythmus, und das bei üppiger Bezahlung. Ich sehe schon tausende junge Leute einen Pflegeberuf ergreifen.

Mein Freund, der Altenpfleger in Quarantäne, ist begeisterter Marathon-Läufer und joggt in seiner freien Woche jetzt nachts. Damit ihn niemand auf der Straße sieht. Ist Laufen während der Quarantäne ein Verbrechen?

“Es ist hier Tradition, dass die französische Regierung ihre Bürger wie Kinder behandelt. Selbstverantwortliches Handeln traut man den eigenen Bürgern nicht zu. Stattdessen gibt es Regeln und Sanktionen”, erzählt mir jemand in Strasbourg. Ich erinnere mich, wie ich mit dem Fahrrad zu meiner drei Kilometer entfernt wohnenden Lebenspartnerin geradelt bin, als man sich nur einen Kilometer von der eigenen Wohnung entfernen durfte. Ich habe mich gefühlt wie ein Verbrecher. Woher kommt dieses Gefühl?

In der gleichen Woche fallen in Strasbourg dreimal Straßenbahnlinien aus. Jemand schießt mit einem Luftgewehr auf die Scheiben der fahrenden Trams im Berufsverkehr. Man vermutet Gegner der Maskenpflicht in Bussen und Bahnen dahinter. Ich bin selbst an diesen Tagen zweimal mit der Tram unterwegs. An den Haltestellen ist eingeblendet, welche Linie wegen “Unfällen” ausfällt. Ich lese immer erst hinterher, was es wirklich war. Unfall? Ich würde eher “Anschlag” sagen.

In Frankfurt wird am Tag des Erdbebens von Strasbourg eine Fliegerbombe aus dem zweiten Weltkrieg gefunden. Fahre ich nach Frankfurt zurück, muss ich dann in Quarantäne? In die Wohnung darf ich aber auch nicht, weil mein Viertel evakuiert werden soll. Der Kampfmittelräumdienst rückt an. Bevor er tätig werden kann, müssen 13.000 Menschen ihre Wohnungen verlassen.

Ich kann mich jetzt entscheiden nach Frankfurt zu fahren, entweder die Evakuierung oder die Quarantäne zu missachten, oder in Strasbourg zu bleiben und weitere Erdbeben und Schüsse auf Tramlinien in Kauf zu nehmen. Gleichzeitig könnte ich zwar nicht Essen gehen — die Restaurants sind geschlossen — aber immerhin billige T-Shirts kaufen, wenn ich dafür stundenlang anstehe. Ich muss lachen. Langsam kann ich diesem Jahr sogar eine gewisse Komik abgewinnen.

Ich entscheide mich, nach Frankfurt zu fahren. Beim zweiten Blick liegt meine Wohnung fünfzig Meter außerhalb der Evakuierungszone. Ich habe einen negativen Corona-Test dabei, der weniger als 48 Stunden alt ist. Meine digitale Einreiseerklärung aus dem exotischen Hochrisikogebiet “französisches Festland” nach Deutschland habe ich ausgefüllt und abgeschickt. Zu diesem Zeitpunkt liegen die neuen Corona-Fälle in Strasbourg und Frankfurt ungefähr gleich auf bei einhundertneunzig Neuinfektionen innerhalb der letzten sieben Tage auf 100.000 Einwohner. In Paris, wo der TGV gestartet ist, liegen sie deutlich niedriger bei circa einhundertzehn Fällen. Wo liegt nochmal dieses Hochrisikogebiet?

Außerdem habe ich ein Formular ausgefüllt, das besagt, dass meine Lebenspartnerin in Strasbourg lebende Französin ist. Wir haben das beide unterschrieben und uns gegenseitig bestätigt. Es gibt ein deutsch-französisches Formblatt dafür. Sie hat eine Zweitausfertigung davon — für alle Fälle. Das ist aber nur gültig, wenn man auch noch nachweisen kann, dass der ausländische Lebenspartner schon einmal einen Besuch in Deutschland gemacht hat. Zum Glück habe ich alle Urlaubsfotos in der Cloud. Ob die Polizei Bilder einer Französin auf dem Frankfurter Römer als Beweis akzeptiert, kann ich allerdings nicht sagen. Ich hoffe es, denn andere Beweise habe ich nicht. Im Schengen-Raum gab es weder Visa noch Stempel im Reisepass, noch besitze ich ein altes Flugticket ihrer letzten Einreise. Das letzte Mal sind wir einfach bei Kehl über die Brücke. Zu Fuß. Auf beiden Seiten des Rheins ist ein Park, der durch die Fußgängerbrücke zwischen beiden Ländern verbunden ist.

Sicherheitshalber habe ich mir auch noch ein Formular runtergeladen, das besagt, dass ich selbst auch eine Wohnung in Strasbourg habe, aber in Deutschland arbeite. Ich bin allerdings kein frontalier, also keiner dieser Pendler, die täglich die Grenze überschreiten und immer nur unter vierundzwanzig Stunden zur Arbeit in Deutschland sind. Hm, auch schwer zu erklären, denke ich mir.

Deshalb habe ich mich auch noch dazu entschieden, dass ich die “Muster-Verordnung zu Quarantänemaßnahmen für Ein- und Rückreisende zur Bekämpfung des Coronavirus” (ja, so heißt das) mit mir führe. Auch diesen Dreißigseiter habe ich in meiner Aktentasche dabei. Ich falle unter die Quarantäne-Ausnahme 2a, denn ich besuche Angehörige erster Linie in Deutschland, die nicht in meinem Haushalt leben. Die Ausnahme gilt aber nur, wenn ich weniger als zweiundsiebzig Stunden in Deutschland bleibe. Logisch. Für frontaliers sind vierundzwanzig Stunden in Ordnung, keine Stunde mehr. Für Familienbesuche sind zweiundsiebzig Stunden akzeptabel. Dann aber auf jeden Fall wieder ausreisen, bitte.

Im TGV nach Frankfurt befinden sich zwischen Strasbourg und Karlsruhe eine Polizistin und ein Polizist. In jedem Wagon sind maximal zwanzig Prozent der Plätze belegt.

“Wenn wir alle kontrollieren, kommen wir nie durch”, höre ich die Frau in Uniform zu ihrem Kollegen sagen.

Ich habe einen komischen Verdacht: Ich bin weiß, Mann, fünfzig Jahre alt, habe einen Aktenkoffer dabei und einen geschäftlich wirkenden Mantel an. Im meinem Wagon wurden eine schwarze Frau und ein arabisch anmutender Mann kontrolliert. Stichproben halt, mehr ist zeitlich nicht drin. Wahrscheinlich kann ich mir die Einreiseerklärung das nächste Mal sparen.

Im Zug denke ich an unsere Diskussion am Nachmittag in Zoom. “Mehr Diskurs in der Gesellschaft”, war eine der Visionen. Weniger festgefahrene Positionen, weniger schwarz und weiß.

“Es sollte ein Schulfach Zuhören geben”, sagte Thomas.

Die Welt sei nicht digital, sondern im schlechtesten Falle grau, hoffentlich aber eher bunt. So wie die Meinungen und Ansichten und Prioritäten der Menschen da draußen: evakuiert wegen Bombenfund, sicher oder unter Beschuss in der Tram, friedlich oder provozierend auf Demonstrationen, künstlerisch im Ausdruck oder krass im Ton in den sozialen Medien, noch im Bett, aber aufgeweckt durch den bebenden Boden, technik-bejahend oder technik-kritisch. In der Pflegedienstleitung eines Altenheims, jeden Tag Angst, dass jemand ausfällt. Kaputtgearbeitet in der Nachtschicht. Oder einfach in der Schlange vorm Primark.

Zu Weihnachten wünsche ich mir ein Einhorn. Ein lebendes, bitte.

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Jürgen Artmann - Pendelbewegungen

Jürgen Artmann, Unternehmer, Europäer, Pendler… beobachtet den Alltag und schreibt darüber.